Immer weniger Stammwähler
Dr. Andreas Klee ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bremen. Er notiert in der Motivforschung zwei aktuelle Trends. Die jüngsten Landtagswahlen hätten diese beiden Phänomene auch belegt: "Einerseits, dass Menschen gar nicht wählen gehen. Dies nimmt in den letzten Jahren zu. Und auch, dass wir sehr viele Wechselwähler haben. Es gibt Potenzial, dass man z.B. von ganz links nach ganz rechts wechselt. Das ist erstaunlich und hat damit zu tun, dass es immer schwieriger wird, klare Positionen und Parteien voneinander abzugrenzen."

Election posters can be found all over Germany ahead of the 24 September federal election Source: Getty Images
Die "Weiter-so-Wähler"
"Diejenigen, die die Union wählen, sind ganz klar auf einem Weiter-so-Kurs unterwegs", sagt Politikwissenschaftler Klee. "In der Regel sind es ökonomisch und sozial besser gestellte Menschen, die in der Gesellschaft etabliert sind und die klassische Mittel- bis Oberschicht darstellen."
Jens Mohr aus Melbourne repräsentiert diese Gruppe. Der ehemaliger CEO von Hoechst Australia ist heute ehrenamtlicher Schatzmeister der Australian German Welfare Society und Inhaber einer kleinen Unternehmensberatungsfirma (JM Management Services, Brighton VIC). Er wählt per Briefwahl. "Ich bin der Auffassung, dass Angela Merkel als Kanzlerin trotz aller Probleme einen hervorragenden Job gemacht hat. Sie führt wie eine ´Mutti´ das Land, das schafft Vertrauen. Ich werde deshalb die CDU wählen."
"Man wählt eine Partei. Aber heutzutage mehr und mehr auch Persönlichkeiten. Aber ich denke, an denen fehlt es Deutschland im Moment." (Jens Mohr)

Jens Mohr (SBS) Source: SBS
"Ich möchte nicht, dass Angela Merkel weitermacht, ich möchte jemand anderen", sagt Timo Ruhnau aus Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern. Der 19-Jährige ist einer von drei Millionen Erstwählern. Zur Zeit lebt er in Charters Towers (QLD). "Ich hoffe, dass in einer Zeit mit Leuten wie Trump, Erdogan oder der AfD mehr Menschen begreifen, wie wichtig Politik ist. Ich hoffe auch, dass viele Menschen in Deutschland zur Wahl gehen. Ich möchte auch von Australien aus wählen."

Timo Ruhnau (M) is one of 3 million first-time-voters (SBS) Source: SBS
Stammwählerschaft bricht weg
Das klassiche Klientel, das die SPD über Jahrzehnte hinter sich vereinte, kann sie laut Prof. Klee nicht mehr für sich gewinnen: "Das ist keine sichere Bank mehr." Die rückläufigen Umfrage-Werte ließen sich damit erklären, dass die SPD keine Stammwählerschaft mehr für sich definieren könne.
Anica Niepraschk aus Melbourne war früher SPD-Mitglied in der Lausitz. Doch sie hat der Partei wie andere den Rücken zugekehrt und ist in Australien den Grünen beigetreten. In Australien darf sie nicht wählen, in Deutschland schon. Und sie macht von diesem Recht Gebrauch: "Für mich sind soziale Themen und auch der Umweltschutz ausgschlaggebend. Also wähle ich die Grünen."
"Ich glaube, diejenigen, die die SPD noch wählen - da spielen bestimmte Hoffnungen, auch rund um den Kandidaten Schulz - eine Rolle. Es gelingt aber einfach nicht mehr in dem Umfang, in dem dies früher gelungen ist", glaubt Klee.

Designated SPD chairman and German Chancellor candidate Martin Schulz speaks to the federal congress of Social Democratic Party. Source: AP Photo/Markus Schreiber
Rechts- bzw. Links-Außen
"Eine rechts-moderate Partei zu sein ist ein Modell, das in Deutschland früher nicht wirklich geklappt hat", erklärt Dirk Kurbjuweit, der stellvertretende Chefredakteur des SPIEGELS, im SBS-Gespräch, "relativ schnell hat die AfD nach der Gründung auch jene angezogen, die weiter rechts stehen".
In Umfragen liegt die Alternative für Deutschland bei rund sieben Prozent. "Ich glaube aber, dass es ein Momentum des Schweigens gibt. Dass manche Menschen sich nicht trauen, zu sagen, sie wählen die AfD, sodass ich damit rechne, dass das Ergebnis am Ende höher sein wird."
"Die Linkspartei kann neben der AfD die meisten Menschen hinter sich vereinen, die sich als Verlierer und Abgehängte der Gesellschaft sehen", sagt Prof. Klee von der Uni Bremen.
Für Protestwähler, die zuletzt viele Wahlen weltweit maßgeblich beeinflusst haben, hat sich in Deutschland der Begriff des "Wutbürgers" etabliert.
Die Linkspartei spricht mit ihrem Wahlprogramm gezielt jene an, die sich sozial benachteiligt fühlen.

Dirk Kurbjuweit paid SBS German a visit in Melbourne (right with Christian Froelicher) Source: SBS
Große Koalition verhindern
Die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen hat eine Rückkehr der FDP markiert. Im Mai 2017 erreichte sie in NRW 12,6 Prozent.
"Seither hegt die FDP vor allem die Hoffnung, dass sie sich auch bei den Unentschlossenen bedienen kann", sagt Prof. Klee.
Viele Wahlberechtigte zieht es auch zur FDP, weil sie eine weitere Große Koalition verhindern wollen. "Solche wählen vielleicht deshalb FDP, weil sie eine weitere Kraft so stark machen wollen, dass andere Koalitionen denkbar wären."
Traditionell finden sich in den Reihen von FDP-Wählern eher Unternehmer und generell Besserverdiener. "Von denen wird die FDP oft als Hoffungsträger auserkoren", sagt Klee.
Treue Wählerschaft
"Bei den Grünen sind es traditionell viele bildungsnahe Menschen und Besserverdiener, die sich eine post-materialistische Denkweise auch leisten können", erklärt Dr. Andreas Klee.
Niko Schäuble aus Melbourne bezeichnet sich selbst als "Grün-Wähler, eigentlich schon mein ganzes Wahl-Leben lang. Vor 30 Jahren wollte man etwas verändern, eine kleine Revolution. Aber heute sind die Grünen immer noch eine Partei, die Politik umtreiben und beeinflussen kann. Deshalb bleibe ich bei den Grünen." Interessantes Detail: Winfried Kretschmann, der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg, war früher Schäubles Chemielehrer in Deutschland.